Festansprache Seite 4
Wenn wir außerhalb sind, erkennt man die Sächsinnen und Sachsen im Hotel oder woanders schon nach dem ersten Wort. Aber man erkennt sie und das kann ich aus Erfahrung sagen, auch an einer anderen Art aufzutreten - engagiert, freundlich. In der Schweiz, in Großbritannien, in Frankreich, in den Vereinigten Staaten, überall haben wir junge Sächsinnen und Sachsen getroffen, vorwiegend in Dienstleistungsbereichen. Wir haben sie immer gefragt, gibt´s noch mehr von euch? Dann sagen sie, das wissen wir nicht! Würdet ihr zurückgehen? Ja, wenn es eine vernünftige Aufgabe gäbe, würden wir auch zurück gehen. Wir würden uns dafür interessieren, aber wir wissen nicht, wie wir das erfahren sollen. Das heißt, es gibt ein Interesse. Und wenn von hundert, die weggehen, nur 30 oder 40 nach einer Weile sagen, ich komme zurück und das Wissen mitbringen, das sie inzwischen erworben haben, dann ist das für unser Land wichtig. Deshalb meine ich, sollte man die Abwanderung natürlich am besten vermeiden, aber man sollte die jungen Leute nicht daran hindern, dass sie einmal hinaus gehen und etwas lernen. Denn auch das haben die Sachsen immer getan. Sie sind immer hinaus gegangen, sie sind gereist, sie haben sich umgeschaut und dann sind sie wiedergekommen, genauso wie die Sachsen immer bereit waren, Menschen von außen aufzunehmen. Das hat jetzt etwas mit Zuwanderung zu tun.
Wir diskutieren über Einwanderung oder Zuwanderung. Wir haben im Augenblick in der Bundesrepublik eine große politische Auseinandersetzung, wie das gesetzlich geregelt werden soll. Aber dass es in Deutschland Zuwanderung geben wird, wie es sie in den vergangenen 30/40 Jahren vor allen Dingen in Westdeutschland schon gegeben hat, das ist unstreitig. Die Zuwanderung zu verkraften ist vor allen Dingen eine Aufgabe der Städte und Gemeinden, denn da kommen die Leute hin, da leben sie mit ihren deutschen Nachbarinnen und Nachbarn. Da entstehen, wenn sie denn entstehen, die Konflikte zwischen den Einheimischen und den Fremden. Dort muss die Integration stattfinden. Und es ist gut, wenn wir uns darauf vorbereiten. Es ist gut, wenn wir auch eine Fähigkeit entwickeln gute Leute im Land aufzunehmen. Wir werden sie brauchen, als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, als Bürgerinnen und Bürger. Wir werden sie auch mit dem kulturellen Reichtum, der damit verbunden ist, brauchen. Wir werden sie, wenn wir das richtig machen als Bürgerinnen und Bürger, gewinnen. Aber auch da muss man sich auseinander setzen. Wie macht man das? Lehnt man die Fremden ab, weil sie angeblich Probleme machen oder weil man dann Sorge hat, dass die jungen Leute im Ort in irgend einer Form ausfällig werden, weil sie keine Erfahrung mit Fremden haben oder wie macht man das? Ich kann hier keine Ratschläge geben, aber ich kann eine Aufgabe definieren. Wir können natürlich auch sagen, wir sind nicht interessiert. Dann gehen vielleicht sehr gute Leute, die wir gern in Deutschland hätten, woanders hin als nach Sachsen. Das finde ich nicht gut. Wir müssen ein Standort sein, zu dem auch aus dem Ausland gute Leute gerne kommen, denn diese Bereitschaft gute Leute auch auf längere Zeit aufzunehmen ist zum Beispiel auch eine wichtige Voraussetzung dafür Investoren aus dem Ausland zu gewinnen. Die erste Frage, die mir potenzielle Investoren aus dem Ausland stellen, die nach Deutschland oder nach Sachsen kommen wollen, lautet: "Wenn wir jetzt unsere Leute zum Beispiel aus Amerika mitbringen - da sind Afroamerikaner, Amerikaner chinesischer und japanischer Abstammung dabei - wie werden sie bei euch behandelt? Werden sie freundlich aufgenommen? Haben sie die gleichen Rechte? Müssen sie Angst haben in ein Restaurant zu gehen oder in die Kneipe, weil man dort negative Äußerungen über sie macht oder sie sogar angreift oder jedenfalls bedroht? Wenn das so wäre, würden wir nicht kommen." Mancher kommt in ein neues Land für Investitionen und will die eigenen Fachkräfte mitbringen. Sie kommen nicht immer nur aus Baden-Württemberg, Bayern oder Nordrhein-Westfalen, sie kommen auch anderswo her. Das war für die Ansiedlung von AMD in Dresden eine sehr wichtige Frage. Wir unterhalten uns regelmäßig mit den AMD-Führungskräften, ob sie irgend welche Probleme haben. Wir haben praktisch so eine Art rotes Telefon, damit wir uns sofort darum kümmern können, wenn da wirklich einmal etwas passiert. Denn schneller als sie "gucken" können, sind solche Investoren wieder weg, stellen ihre Forschungseinrichtungen ein, produzieren nur noch, haben dann wieder eine verlängerte Werkbank und wollen aber nicht mehr dauerhaft bleiben.
Das sind Aufgaben, die wir auf der kommunalen Ebene lösen müssen. Wir werden auch ganz wesentliche Leistungen für die Bewältigung der wirtschaftlichen Fragen, vor denen wir stehen, aus der kommunalen Ebene brauchen. Sie wissen, dass wir uns sehr bemühen zu helfen, insbesondere im ländlichen Raum und in strukturschwachen Gebieten, zu helfen, auch um die Arbeitslosigkeit zu überwinden. Wir brauchen aber auch hier die Unterstützung der kommunalen Ebene. Ein praktisches Beispiel, was die Sache am besten deutlich macht: Nach unserem Arbeits- und vor allem Sozialrecht und der von uns angestrebten Zusammenführung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe wird die Frage akut, ob man auf der kommunalen Ebene Beschäftigungsmöglichkeiten hat, die die Kommune berechtigt zu sagen, wir haben hier Arbeit für dich, wenn du nicht arbeitest, kriegst du auch keine Unterstützung - also bitte tue etwas. Vielleicht ist der oder die dann auch bereit, etwas zu tun. Bloß geht das nur, wenn man etwas zu tun hat, das heißt, wenn eine wie immer geartete Beschäftigungsmöglichkeit oder ein Arbeitsangebot existiert. Wir haben damit in Sachsen schon eine ganze Reihe gute, teilweise aber auch problematische Erfahrungen gesammelt.
Wir müssen an dem Problem weiter arbeiten. Es ist außerdem wichtig, dass man sich um Menschen auf der kommunalen Ebene kümmert, und zwar nicht immer nur durch die Administration und den Bürgermeister, sondern durch Bürger und Bürgerinnen selbst. Das geht im Rahmen von Vereinsaktivitäten oder auf andere Weise für Menschen, die schon seit längerer Zeit nicht mehr in Arbeit sind, aber bereit wären sich wieder einzugliedern, wenn sie Unterstützung bekommen. Ich kenne Gemeinden, in denen Bürgerinnen und Bürger bereit sind, so eine Art Patenschaft für einen Arbeitslosen zu übernehmen. Ihn einmal bei der Hand zu nehmen und zu sagen, nun lass uns einmal gucken, ob wir etwas finden. Allein diese Zuwendungen - ich spreche hier, wie sie vielleicht merken, nicht nur von Geld, sondern ich spreche von Mittun, Zuwendungen und ähnlichem - Jemanden wissen zu lassen, dass er zur Gemeinschaft gehört, auch wenn er arbeitslos ist, kann sehr wichtig für die Motivation von Arbeitslosen sein. Es kann dazu führen, dass er abends nicht mit der Bierflasche vor der "Glotze" sitzt, sondern sich vielleicht doch auch in die Kneipe und an den Stammtisch traut. Und das, weil er nicht Angst haben muss, dass er angepöbelt wird, weil er arbeitslos ist, sondern dass er aufgenommen wird und dass man sich eher dafür interessiert, ob man denn irgendwo einmal eine helfende Hand reichen kann, wenn er etwas unternehmen will. Auch im Arbeitsmarkt wird sich im Übrigen die Demographie dramatisch auswirken. Das gilt insbesondere für den Pflegebereich, das gilt aber auch für den Bereich Kindergärten, das gilt für alle Bereiche, in denen es um die Betreuung von jungen und alten Menschen geht.
Ich will hier keine langfristigen Prognosen erstellen, aber wenn Sie sich die Bevölkerungsprognosen für Sachsen anschauen und nach wie vor von einer, wenn auch bescheidenen, Abwanderung ausgehen, die nicht durch ausreichende Zuwanderung ausgeglichen ist, werden sie feststellen, dass wir jüngere Generationen für solche Tätigkeiten bald gar nicht mehr zur Verfügung haben. Das heißt, die Frage ist, wer macht es dann? Wie kann man Ältere dafür gewinnen noch Ältere zu pflegen oder für noch Ältere da zu sein. Meinen Kindern sage ich, dass sie davon ausgehen müssen - und zwar nicht, weil sie selbst keine Kinder haben, sondern weil ihre Geburtenjahrgänge zu wenig Kinder haben - dass in ihrer Generation, also in den so genannten geburtenstarken Jahrgängen von etwa Mitte 50 bis Ende 60 in Westdeutschland viele Alte keine Angehörigen mehr haben werden, keine Kinder, keine Neffen, keine Nichten. Und dass sie mit großer oder zumindest einer gewissen Wahrscheinlichkeit dann von Menschen gepflegt werden, die möglicherweise noch nicht einmal ihre Sprache sprechen, weil sie aus ganz anderen Kulturkreisen stammen. Denn der europäische Kulturkreis gibt eine entsprechende Einwanderung nicht her.